DIEZEITEN: MORE THAN FIFTEEN MINUTES

Alle Zeitformen, die nicht dem Diktum der Effizienz und Beschleunigung gehorchen und die Kreisläufe der Information, der Kommunikation und des Kapitals behindern, sind uns abhandengekommen. Zeit hat heute kein Halten mehr und wird immer schneller. Selbst die Pause und die allseits angepriesenen Entschleunigungspraktiken dienen letztlich nur der Regeneration von Arbeitskraft. Sie verbleiben im Modus der Arbeitszeit, die alle anderen Zeitformen– den Feierabend, die Muße, die Zeremonie und das Fest– kolonialisiert hat.

In zehn Werken und einer Dauerperformance widmete sich die Ausstellung „diezeiten: More Than Fifteen Minutes“ der Zeit als Gabe. „Die Zeit, die sich beschleunigen lässt, ist eine Ich-Zeit. ... Es gibt aber auch eine andere Zeit, nämlich die Zeit des Mitmenschen, eine Zeit, die ich ihm gebe. Die Zeit des Anderen als Gabe lässt sich nicht beschleunigen. ... Im Gegensatz zur Ich-Zeit, die uns isoliert und vereinzelt, stiftet die Zeit des Anderen die Gemeinschaft, ja die gemeinsame Zeit. Sie ist die gute Zeit.“ (Byung-Chul Han).

Es geht um die Krise der Zeit und eine neue Zeitpolitik, um absolute Gegenwart und endlose Dauer, um vorwärts- und rückwärtsgewandte Wiederholungen. Es geht darum, sich selbst und den Anderen– dem Kunstwerk und den Mitbetrachter - mehr Zeit als nötig zu geben. Es geht um den „Anspruch der Bilder an uns: Sie auszuhalten in ihrer schweigenden Wesentlichkeit, mit der sie uns in eine Wesentlichkeit unserer selbst einberufen.“ (Michael Brötje)



Judith Albert: Zwischen der Zeit, Video (Loop) 2004



Im Video der Schweizer Künstlerin Judith Albert scheint die Zeit zum Stillstand zu kommen. Albert übersetzt eines der berühmten Gemälde der Kunstgeschichte, Jan Vermeers „Die Milchmagd“ (1658–60), ins bewegte Medium. So wie der Milchstrom nie verrinnt, so scheint die Zeit gänzlich unvergänglich zu werden, sich ins Unendliche zu dehnen. Die Balance zwischen Bewegung und Ruhe in Alberts Video ruft im Betrachter die Paradoxie eines bewegten Stillstands hervor, was eine extrem entspannende, zugleich aber auch extrem verstörende Erfahrung sein kann.

 

 

Judith Albert

*1969 in Samen, lebt und arbeitet in Zürich

 

Weitere Informationen unter www.judithalbert.ch

 

zurück↑

Horst Antes: 52 Tage (31.6.93– 21.1.94), Malerei, 1994


Die Werk „52 Tage (31.6.93– 21.1.94)“ von Horst Antes zeigt Geschriebenes, nämlich Zahlen und bleibt doch ganz malerisch. Antes’ Datumsbilder stehen in einer Nachbarschaft zu den großen konzeptuellen Ansätzen der Kunst der 1960er und 1970er Jahre wie etwa der „Today Series“ eines On Kawara oder auch den Zahlenbildern eines Roman Opalka. Anders als diese aber, schafft Antes eine hochkomplexe Bildwelt, die sich jeder vorschnellen Vereinnahmung entzieht. Obwohl nur aus übereinander geschriebenen ‚Daten’ unseres objektiven Kalenders gebildet, bleibt die Lesart des Bildes extrem subjektiv. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verweben sich zu einem nicht mehr linear zu fassenden Zeitfeld.


Über Horst Antes:

*1936 in Heppenheim, lebt und arbeitet in Karlsruhe, Berlin und Castellina in Chianti


zurück↑

Anja Braun: Standbilder, Dauerperformance, 2014

Die Performancekünstlerin Anja Braun führte während des Eröffnungswochenendes am 13. und 14. September eine Dauerperformance im Ausstellungsraum durch, bei welcher sie, in Interaktion mit dem Publikum, die Standpositionen beim Betrachten der Kunstwerke durch Abkleben mit blauem Klebeband fixierte und dadurch als „Standbilder“ sichtbar machte. 


Über Anja Braun:

*1985 in Freiburg im Breisgau; lebt und arbeitet in Bern

Weitere Informationen unter www.anjabraun.ch

zurück↑

Leonie Felle: and i beat the time back to life, Installation, 2012


Leonie Felle nutzt in ihrer Installation „and I beat the time back to life“ eine Uhr, die ursprünglich mal für Viele die Zeit angab: die ehemalige Turmuhr des AGFA-Camerawerks in München. Sie war der nur scheinbar dezente Taktgeber für eine Zeitform, die ganz der Logik der Effizienz und des Kapitals unterworfen war, eben jener Logik, die dann am Beginn unseres Jahrhunderts zur Schließung des Camerawerks geführt hat, Bild einer Krise. Die Krise kann eben auch als eine heutige Zeitkrise gesehen werden, die zu oft zu eindimensional mit dem Schlagwort der ‚Beschleunigung’ belegt wird.

In Felles Installation ist der Ziffernring zerlegt; die Zeiger drehen sich rückwärts, gegen die Zeit. Diese ‚Uhr‘ zeigt statt der Lesbarkeit der Zeit eine Unordnung der Zeit und unterläuft so deren Messbar- und Beherrschbarkeit. In eben dem Maße aber wie die Installation dem Betrachter jedes objektivierbare Zeitwissen entzieht, schafft sie eine spezifische Zeit, die nur an diesem Ort und für die Dauer seines Schauens gilt. Der Betrachter ist für die Dauer seines Betrachtens zurück geworfen auf sein radikal subjektives Zeitempfinden.

 

Über Leonie Felle
:

*1979 in Lindenberg, lebt und arbeitet in München

Weitere Informationen unter www.leonie-felle.de


zurück↑

Carsten Fock: o.T. (aus BRD ’88), 2012

 

Carsten Focks Bildserie „BRD ´88“ widmet sich dem kollektiven Bildgedächtnis zum Terror der Roten Armee Fraktion. Die Ausstellung zeigt eine Auswahl von drei Bildern: zwei Gemälde und ein gerahmter Siebdruck. Das größte der drei Bilder ist in sechs farbige Streifen unterschiedlicher Breite gegliedert. Die satten Farben bilden den Hintergrund für eine Hausfassade, angedeutet durch eine weiße Strichzeichnung. Es sind die Umrisse des Flügels der JVA Stuttgart-Stammheim, der 1975 eigens für die inhaftierte Führungsriege der RAF gebaut wurde. Darüber liegen wieder expressive Farbfragmente. Die historischen Bezüge seiner zwischen Abstraktion und Figuration oszillierenden Malerei stellt der in Berlin lebende Maler häufig durch textuelle Versatzstücke her. Bei dieser Serie ist es ein Siebdruck, der einen Artikel aus „Die Zeit“ wiedergibt. Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt spricht unter dem Titel „Ich bin in Schuld verstrickt“ rückblickend über die Ereignisse des „Deutsche Herbsts“ 1977 und vor allem über die Entführung und Ermordung des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hans-Martin Schleyer durch die RAF-Terroristen. Handschriftliche Notizen und Farbspuren verweisen darauf, dass der Artikel lange Zeit auf Focks Arbeitstisch gelegen hat. Der Hintergrund des dritten Gemäldes wird von den Farben Lila und Weiß dominiert. Darüber liegen zwei braune Masken, aus der hinteren wachsen zwei Bäume. Die ausgesparten Augenhöhlen, die Nase und der Mund der vorderen Maske lösen ein beklemmendes Gefühl beim Betrachten aus. In Carsten Focks Werken wird das eigene Sehen zur Aktion. Im Spannungsfeld zwischen „abstrakter Abbildlichkeit und abbildlicher Abstraktion“ werden Assoziationen an schon Gesehenes geweckt. Uneindeutigkeiten entwickeln implizite politische Sprengkraft. „Fock provoziert eine radikale Öffnung des Blicks. Was durch diese Öffnung hindurch kommt, muss neu gedacht werden.“

 

Über Carsten Fock:
*1968 in Deutschland, lebt und arbeitet in Berlin


Weitere Informationen unter www.jochenhempel.com

 

zurück↑

Bettina Grossenbacher: Mikado, Video (Loop), 2010


Bettina Grossenbacher zeigt „Mikado“ als einen knapp 20minütigen Loop– kein Titel, kein Vor-, kein Abspann, keine Schwarzblende zwischen ‚Ende’ und ‚(Wieder-)Anfang’. Das hat Konsequenzen für die Rezeption. Das gesamte narrative Nacheinander einer sich entwickelnden Geschichte verliert seine Gewissheit, die Logik eines So-ist-es-Gewesen oder auch die mögliche Festigkeit einer Nacherzählung lösen sich auf. Der Betrachter wird konfrontiert mit einer im höchsten Maße verdichteten Schichtung aus Einzelwahrnehmungen von Dingen, Farben und Formen, Geräuschen, Tönen und Texten. Er muss sich zurecht finden, beginnt sich ein nicht gesehenes Vorher zu imaginieren, beginnt sich zu fragen‚ wie es weiter geht, wo das Ganze hin führt. Irgendwann kehrt er an seinen Einstieg, eben nicht den Anfang, zurück und die Sortierung beginnt von neuem, jetzt anders. Die Bilder oder Bildsequenzen lassen sich nicht in ein schlüssiges Kontinuum fixieren, sondern provozieren ein diskontinuierliches Beziehungsgefüge.


Über Bettina Grossenbacher:
*in Thun, lebt und arbeitet in Basel


Weitere Informationen unter www.bettinagrossenbacher.com


zurück↑

 

Esko Männikö: Organized Freedom (Final Edition 1), Fotografie, 2004


Esko Männikkös Bild stammt aus der Serie „Organized Freedom“, die Männikkö in den 1990er Jahren im nördlichen Finnland aufgenommen hat. Er ‚porträtiert‘ in dieser Serie vom Menschen verlassene oder gerade noch bewohnte Orte am Rand unserer Zivilisation. Das Bild konfrontiert den Betrachter mit einer scheinbar endlosen Vielzahl an Details, vor allem Spuren von Vergangenem. Das Bild lädt dazu ein, all diese Details seiner Dingwelt als Relikte eines Lebens einer oder mehrerer Personen zu lesen, Geschichten zu erzählen, die aber alle erfundene bleiben müssen. Wie hat sich hier gelebt? Wer hat hier gelebt? Was hat er oder sie gemacht? Warum ist dieser Lebensraum nun verlassen? In dieser Hinsicht zeigt uns Männikkö Spuren einer für uns unbestimmten und damit aber durchaus für uns offenen Vergangenheit, eines Alters. Je offener das Bild lässt, wessen Lebensraum ich hier anschaue, desto intensiver kann ich als Betrachter in dieses Bild eintauchen. Die Fragen bleiben und werden eher mehr als weniger. Esko Männikkö konfrontiert den Betrachter mit einer unvordenklichen Paradoxie, derer er sich nur sehr schwer entziehen kann. Es provoziert das Erleben einer vollständig distanzlosen Vergangenheit oder anders gesagt: eines vergangenen und zugleich gegenwärtigen Jetzt.

 

Über Esko Männikkö:

*1959 in Pudasjärvi, lebt und arbeitet in Oulu

 

Weitere Informationen unter www.jochenhempel.com

zurück↑

Joseph Maroni: Green Painting, Acryl auf Leinen, 2010


Seit den frühen 1970er Jahren ist Joseph Marioni einer der führenden Vertreter der als „radical painting“ bezeichneten Malerei. Das „Green Painting“ von Joseph Marioni ist ein Gemälde, welches sich einem erst bei näherer, intensiver Betrachtung offenbart. Der erste Blick lässt eine homogene grüne Fläche erscheinen, doch verringert man die physische Distanz, lässt sich mehr entdecken als eine voll ausgefüllte Fläche mit einem einzigen Farbton. Es zeichnet sich dann Bild von größter Differenziertheit ab, das jedoch nicht an Homogenität und Strahlkraft verliert. Grün, in verschieden Ausführungen, ist dabei die dominierende Kraft, die aus dem Bild hervortritt; sie überdeckt größtenteils die braun grundierte Leinwand, die nur noch an den Rändern sichtbar ist. Marioni nutzt Rolle, Pinsel und seine eigenen Finger, mit denen er in den Farbverlauf einwirkt, um dieses Gemälde entstehen zu lassen. Dennoch scheint es aus sich selbst heraus entstanden zu sein, da die persönliche Richtungsgebung des Künstlers nicht erkennbar ist. Keinesfalls wirkt es dadurch kühl oder gar anonym, stattdessen ist es durch die Bewegtheit der Farbe und Lichtkraft lebendig und vermag den Betrachter in seine Tiefe zu ziehen. Dies zu verwirklichen und der Farbe ein Strahlen zu entlocken, war seit je her eines der größten Ziele der Malerei. Marioni scheint durch das Auftragen mehrerer dünner, fast transparenter Schichten, dem Farbton Charakter zu verleihen. Durch Übereinaderlagerung des gleichen Farbtons, durch Lasieren unterschiedlicher Farbnuancen, wird dieser intensiver und gewinnt an Tiefe. Der Focus wird so wieder zurück auf den Eigenwert der gemalten Farbe gelenkt. Die Lebendigkeit des Gemäldes und das fast einem Gegenüber ähnelnde Kunsterzeugnis wird durch die Rahmung unterstützt, welche eine schwebende Wirkung hervorruft. Der Betrachter kommt völlig zur Ruhe beim Anblick dieses in der Luft befindlichen Objekts und spürt gleichzeitig eine mitreißende Schwere, welche durch das Herabfließen der Farbe erzeugt wird. Eine energetische Spannung wird ausgestrahlt, die eine Verbindung zwischen Objekt und Betrachter ermöglicht; eine Wirkung der man nur selten auf so berührende Weise begegnet.

 

Über Joseph Marioni:
*1943 in Cincinnati, Ohio, lebt und arbeitet in New York

 

Weitere Informationen unter home.tiac.net/~marioni



zurück↑

 

 

Sophie Reinhold: ohne Titel, Öl auf Marmorgrund, 2011

Bei Sophie Reinholds Gemälden steht das Prozesshafte im Vordergrund. Die Ausführung ihrer unbetitelten Großformate hat etwas Kühles, angenehm Technizistisches an sich. Weil die Künstlerin bei der Grundierung ihrer Bilder mit Marmormehl arbeitet und die Ober­fläche während der Produktion immer wieder sorgfältigen Schleifungen unterzieht, entstehen glatte Flächen, an denen jede expressive Geste wie auf einer Teflon­beschichtung abgleitet. Reinholds Werke verweisen durch die Materialität und künstlerische Technik auf die Verbindung von Architektur und Malerei, dem Fresko. Gleichzeitig wird eine eigene ästhetische Wahrnehmung von Struktur, Farbe und Oberfläche geschaffen, die sich jeder Zeit zu entledigen scheint. 

Über Sophie Reinhold:
*1981 in Berlin, lebt und arbeitet in Berlin

Weitere Informationen unter www.frieze-magazin.de

zurück↑

August Sander: Vater und Sohn, Fotografie, 1931


August Sander ist einer der bedeutendsten Fotografen des 20. Jahrhunderts. Auf der Fotografie „Vater und Sohn“ sind zwei ältere, unter einem Baum sitzende Männer zu sehen. Das Foto stammt aus dem Jahr 1931 und damit aus einer Zeit weit vor der Möglichkeit, Fotografien nachträglich digital zu verändern. In eben diesem Sinne wird es zu einem Dokument eines historischen Zeitpunkts. Zugleich aber zeigt es in der präzisen Wiedergabe der beiden gealterten Gesichter Spuren einer vergangenen Lebenszeit. Wissen tun wir, dass die beiden zu sehenden Männer seit langem verstorben sind. Ahnen möchten wir das Verhältnis zwischen den Generationen, zwischen Vater und Sohn. Sander gelingt es in einzigartiger Weise, Zeit(en) in seinen Bildern zu speichern. Der Betrachter wird vor Sanders Fotografie mit sehr unterschiedlichen Zeiterfahrungen konfrontiert.


Über August Sander:

*1876 in Herdorf, †1964 in Köln

 

Weitere Informationen unter www.photographie-sk-kultur.de


zurück↑

 

Christoph Schäfer:  (Earth Tables) Iftar in Yeniköy, Zeichnung, 2013


Die Zeichnung „(Earth Tables) Iftar in Yeniköy“ zeigt eine Ansammlung von beinahe 150 merkwürdigen Wesen und Dingen, die an langen Tafeln, genauer bodenliegenden weißen Decken, unter mindestens ebenso merkwürdigen Bäumen sitzen und essen. (...)

Der Hintergrund für die Zeichnung von Christoph Schäfer, die zentraler Bestandteil seiner vor Ort entstandenen Installation für die 13. Istanbul Biennial wurde, ist dabei durchaus ernst. Es waren die sich in den Wochen nach den weltweit wahrgenommenen Protesten im Istanbuler Gezi-Park entwickelnden lokalen Aktivitäten in den Parks, auf den Plätzen und Straßen Istanbuls. Eben dort in den einzelnen Stadtteilen zeigten sich friedliche und vielfältige widerständige Momente: gemeinschaftliche alltägliche Handlungen wie öffentliches Fastenbrechen von Muslimen und Säkularen, Gesprächsforen, gemeinsame Lektüren, gemeinschaftliches Teetrinken und Anderes. Der öffentliche Raum veränderte sich– für Außenstehende nur schwer wahrnehmbar, für die Teilnehmer umso nachhaltiger. Eine neue Idee des ‚Gemeinsamen‘ und des wechselseitigen Gebens begann.


Über Christoph Schäfer:

*1964 in Essen, lebt und arbeitet in Hamburg


Weitere Informationen unter www.christophschaefer.net


zurück↑

 

 

 

Texte (Auszüge): Jörg van den Berg, 2014.
Eine Ausstellung, kuratiert von Jörg van den Berg, in Kooperation mit dem Kunstverein Friedrichshafen.