AUSSTELLUNGEN / EXHIBITIONS

Das große Tableau // The Big Picture

2. September bis 2. Dezember 2023

Alex Hernández-Dueñas & Ariamna Contino, Joyce Kozloff, Agnes Meyer-Brandis, Susan Schuppli, Ward Shelley, Till Wittwer

English text below

DE Unser Wort „Wissen“ ist sprachgeschichtlich mit dem Sehsinn verbunden: Wer etwas gesehen hat, kann es bezeugen, also wissen. Instrumente des Wissens wie Archive, Sammlungen, Listen und Enzyklopädien ordnen das Unübersichtliche. Diagramme, Karten und Atlanten schaffen Überblick. Modelle und Schaubilder geben Abstraktem und Unsichtbarem eine Gestalt. Wie in wissenschaftlichen Abhandlungen ist hier das Denken am Werk. Hier wird formuliert, systematisiert, klassifiziert und verworfen. Bei allem Streben nach Objektivität und Allgemeingültigkeit sind diese Ordnungsmuster nicht unumstößlich, als Ergebnisse zahlreicher Vorannahmen und Produkte ihrer historischen und sozialen Bedingungen sogar umstritten. Wissen ist nicht beliebig, aber im Wandel und es gibt zahlreiche Betrachtungswinkel.

Aus dem 18. Jahrhundert ist uns die überraschend spielerische „Chronografische Karte“ überliefert. Dem mühseligen Studium einer Vielzahl historischer Abhandlungen stellte der Franzose Jacques Barbeu-Dubourg (1709–79) einen sinnlichen und vorfilmischen Apparat zur Seite. Mittels Kurbeln konnte die damalige Version der Menschheitsgeschichte, die 6.500 Jahre seit Adam und Eva umfasste, am Stück betrachtet werden. Der 16 Meter lange Zeitstrahl mit ausgeklügelten Piktogrammen erlaubte es historisch parallele Entwicklungen zu erkennen. Für die Kunsthistorikerin Astrid Schmidt-Burkhardt ist diese frühe Lernmaschine eine beachtliche Meisterleistung des bildenden und interaktiven Sehens, der unterhaltsamen, ja fröhlichen Wissenschaft.

Sehen und Erkennen, Kunst und Wissenschaft sind seit ihren Anfängen verbunden und können sich gegenseitig im Wechselspiel befruchten. Kunst bietet Entfaltungsspielräume für Visionen und Spekulationen. Manche von ihnen wurden sogar Wirklichkeit. Zeitgemäß oder revolutionär war Kunst stets, wenn sie das jeweils aktuelle Weltwissen ins Bild fassen konnte. Kategorien, Bilder und Methoden der Wissenschaft sind selbst immer auch Abbild des aktuellen Weltverständnisses und als solche Gegenstand der künstlerischen Inspiration und Kritik.

Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung haben mediale und wissenschaftliche Fortschritte eine rasante Dynamik des Wissens entfaltet. Noch nie waren Informationen so niedrigschwellig zugänglich wie heute. Archive und Museen öffnen sich ins Netz und können unabhängig von Ort und Zeit durchforscht werden. Sie werden ergänzt durch neue digitale Wissensplattformen und Methoden zur globalen und kollektiven Datensammlung. Dabei vervielfältigen sich die Betrachtungswinkel jenseits westlicher und moderner Hegemonien. Bisher Unterdrücktes und Abgewertetes kann sichtbar werden. Manche sehen jedoch, angesichts des Missverhältnisses von verfügbaren Informationen und menschlicher Aufnahmekapazitäten, von wissenschaftlichem Fortschritt und kognitiver Trägheit, bereits ein neues Mittelalter heraufziehen. Angesichts der Konjunktur „alternativer“ und „gefühlter“ Fakten, haarsträubender Geschichts- und Wirklichkeitsleugnung sowie Verschwörungstheorien mag das naheliegen.

Kann uns die Kunst Orientierung im Überfluss und Widerstreit der Informationen geben? Hat sie Methoden, falsche Gewissheiten zu hinterfragen und Neues wie Zukunftweisendes zu erkennen? Kann sie uns helfen, den gesamten Überblick und die vernetzten Abhängigkeiten der Bedingungen unserer Existenz – kurz: Das große Tableau – zu sehen?

 

The Big Picture

EN Knowledge is connected with the sense of sight: Anyone who has witnessed something can testify to it, that is, know it. Instruments of knowledge such as archives, collections, lists and encyclopedias arrange that which is confusing. Diagrams, maps and atlases provide an overview. Models and charts give shape to the abstract and the invisible. As in scientific treatises, conceptualization is at work here. They formulate, systematize, classify and discard. Despite all the striving for objectivity and universality, these patterns of order are not irrefutable: as the results of numerous assumptions and products of their historical and social conditions, they can even be controversial. Knowledge is not arbitrary, but changing, and there are numerous vantage points.

The surprisingly playful “Chronographic Map” has been handed down to us from the 18th century. Jacques Barbeu-Dubourg (1709-79) of France created a sensorial and pre-cinematic apparatus for the laborious study of a multitude of historical treatises. Using cranks, the then-accepted version of human history—which spanned 6500 years, beginning with Adam and Eve—could be viewed in one piece. The 16-meter-long timeline with sophisticated pictograms made it possible to identify historically parallel developments. For the art historian Astrid Schmidt-Burkhardt, this early learning machine is a remarkable feat of visual and interactive vision, of entertaining, even cheerful, scholarship.

Seeing and knowing, art and science have been connected since their beginnings and can mutually fertilize each other in interplay. Art offered room for visions and speculations to develop. Some of them even became reality. Art was always of its time or revolutionary, when it was able to capture current world knowledge in an image. Categories, images and methods of science are themselves always reflections of the current understanding of the world and, as such, objects of artistic inspiration and criticism.

In the course of globalization and digitization, media and scientific advances have developed a rapid dynamic of knowledge. Information has never been as accessible as it is today. Archives and museums have been opened up to the Internet and can be searched regardless of place and time. They are complemented by new digital knowledge platforms and methods for global and collective data collection. In doing so, the viewing angles beyond Western and modern hegemonies multiply. The previously suppressed and devalued can be seen. Some, however, are already seeing a new Middle Ages emerging, in view of the imbalance between accessible information and human capabilities of absorption, between scientific progress and cognitive inertia. Considering the current explosion of “alternative” and “felt” facts, hair-raising denials of history and reality, as well as conspiracy theories, this may be obvious.

Can art provide us orientation in the profusion of and contradictions in information? Does it have methods of questioning false certainties and recognizing the new and future-oriented? Can it help us to see the entire overview and the interconnected dependencies of the conditions of our existence—in short: the big picture?

Gefördert von // funded by

ÜBER LEITUNGEN . INFRA STRUCTURES

22. April bis 2. Dezember 2023

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English text below

Arijit Bhattacharyya, Ursula Biemann, Ines Doujak, Deborah Kelly, Nuno Silas

DE Pipelines, Abwasserkanäle, Stromtrassen, Autobahnen, Glasfaserkabel: Unzählige Leitungen und Wegführungen stellen Verbindungen her – kommunal, national, global; bis hin zu Satelliten in der Erdumlaufbahn. Mit ihnen entstehen Fließräume, durch die sich unablässig Energien, Dinge, Menschen, Ideen und Daten bewegen. Ohne sie wären die Errungenschaften sowie alltäglichen Annehmlichkeiten moderner Gesellschaften undenkbar. Als menschengemachte Zusatznatur dienen sie uns zur Ver- und Entsorgung, zur Mobilität und Kommunikation.

Paradoxerweise bleiben diese Infrastrukturen – trotz, vielleicht auch wegen ihrer Monstrosität und Allgegenwart – meist unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle: „unterhalb“ ist die deutsche Bedeutung von „infra“. Im Untergrund und hinter Fassaden verborgen, sind sie lediglich Gegenstand technokratischer Planung. Diese Unsichtbarkeit ist durchaus strategisch. Hinter der unpolitischen Fassade verbirgt sich die tatsächliche Brisanz. Meist offenbart sich diese, wenn die beschworene Funktionalität und Effizienz stockt.

Wenn der Anschluss nicht klappt oder die Heizung ausfällt, wenn der Verkehr staut, wenn die Kosten steigen, wenn die Lieferketten reißen, vermögen die gerade noch ins gesellschaftlich Unterbewusste verbannten Versorgungssysteme tiefe politische Gefühle der Frustration zu wecken – zum Teil genügt die bloße Angst davor, abgehängt zu werden. Spätestens hier enthüllt sich der mit Infrastrukturen tief verbundene Staats-, Fortschritts- und Wachstumsfetischismus. Ihr Ausbau verspricht Zukunft, birgt aber auch ungeheures Konfliktpotenzial. Ihre Präsenz steht für die Anwesenheit des Staates. Ihr Funktionieren bedeutet gutes Regieren. Ihr Versagen kommt Staatsversagen gleich. Ihre Komplexität macht Gesellschaften verwundbar.

Zur Geogeschichte der Infrastrukturen gehören der Raubbau natürlicher Ressourcen, die Vertreibungen von Menschen, Kolonialismus und Imperialismus. Nach Außen richtet sich infrastrukturelle Gewalt mit Rücksichtlosigkeit, Enteignung, Ausbeutung und Ausschluss. Nach Innen kontrolliert sie die Versorgten mit Abhängigkeiten. Einmal errichtet, werden Infrastrukturen träge. Teuer im Unterhalt sind sie schwerfällig in der Anpassung an Wandlungsprozesse. Sie sind fest verbaute Beharrungskräfte. Doch ihre Funktionen sind keineswegs eindimensional. Sie ermächtigen, bereichern oder korrumpieren nicht nur Politik und Betreibergesellschaften. Ihre Funktionen werden von den Nutzenden zweckentfremdet und unterwandert. Gesellschaftlich können sie sogar verwandelt werden.

Die Ausstellung „über leitungen . infra structures“ widmet sich der zunehmenden gesellschaftlichen Aufmerksamkeit für Infrastrukturen und präsentiert künstlerische Positionen mit dem Blick auf ihre Analyse, aber auch auf Formen ihrer Unterwanderung und Überwindung. Wie gestalten wir Infrastrukturen für eine Zukunft ohne Raubbau an Mensch und Natur?

 

EN Pipelines, sewers, power lines, highways, fiber-optic cables: countless conduits and routing systems establishing connections—from municipal, national and global levels up to satellites in Earth's orbit. They create fluid spaces through which energies, things, people, ideas and data are constantly moving. Without them, the achievements and everyday conveniences of modern societies would be unthinkable. As a human-made addition to nature, they provide us supply and disposal, mobility and communication.

Paradoxically, these infrastructures—despite, or perhaps because of their monstrosity and ubiquity—usually remain below the threshold of our perception: in English, “infra” means “below”. Hidden underground and behind facades, they are simply the subject matter of technocratic planning. This invisibility is strategic. Behind the apolitical facade lies the actual point of friction. This is most often revealed when their promised functionality and efficiency falter.

If the connection does not work, or the heating fails, if traffic jams, if costs rise, if supply chains break, the supply systems banished to the social subconscious awaken deep political feelings of frustration—in part, just the fear of being left behind is sufficient. At this point, the fetishism for state, progress and growth, which is deeply linked to infrastructures, is revealed. Their expansion promises the future, but also holds tremendous potential for conflict. Their presence stands for the existence of the state. Their functioning means good governance. Their failure equals state failure. Their complexity makes societies vulnerable.

The geological history of infrastructures includes the depletion of natural resources, the displacement of people, colonialism and imperialism. Infrastructural violence is directed externally through recklessness, expropriation, exploitation and exclusion. Internally, it controls those whom it supplies through dependency. Once built, infrastructures become sluggish. They are expensive to maintain and cumbersome to adapt to changing processes. They are permanently installed inertial forces. But their functions are by no means one-dimensional. They empower, enrich or corrupt not only politicians and utility companies. Their functions are misused and subverted by their users. They can even be transformed socially.

The exhibition “über leitungen . infra structures” is dedicated to increasing social attention to infrastructures and presents artistic positions with the intent of analyzing them, but also looking at forms of subverting and surmounting them. How do we design future infrastructures that don't extract from people and nature?

Ramin Rahman

The Sense Making Journey

2. September bis 29. Oktober 2023

DE Am 15. August 2021 floh der Fotograf Ramin Rahman aus Kabul in Afghanistan und gelangte über Umwege nach Leipzig. In dieser Ausstellung präsentiert er in Fotografien, Texten und Tonaufnahmen die Erlebnisse seiner Flucht und seine Geschichte der letzten zwei Jahre. In diesem Zeitraum war Rahman für neun Monate Stipendiat der HALLE 14.

 

EN On August 15, 2021, photographer Ramin Rahman fled from Kabul, Afghanistan and arrived—via several detours—in Leipzig. In this exhibition, he presents photographs, texts and sound recordings from the experiences of his escape and his story of the last two years. During this period, Rahman was a grantee of HALLE 14 for nine months.